Lotosbluete

Über das Haiku 

nach FRIEDRICH HELLER,
bearbeitet und gekürzt von TRAUDE VERAN

Das Haiku ist ein altjapanisches Naturgedicht, bestehend aus drei Zeilen in der Silbenanzahl 5–7–5. Diese Gedichtform wurde ungefähr 400 Jahre vor der Erfindung der Fotografie zuerst von buddhistischen Mönchen, später vom hohen Adel gepflegt – bis sie zum Volksgut wurde. Und zwar in einem derartigen Maße, dass behauptet werden kann, jeder Japaner hat in seinem Leben mindestens ein Haiku geschrieben. Das ergäbe eine ungeheure Summe, stünde dem nicht die Tatsache gegenüber, dass es genau genommen nur wenige echte Haiku gibt.

Für die Beurteilung eines „orthodoxen“ Haiku ist der Hinweis auf die Fotografie nicht unbedeutend. Denn der Haiku-Dichter wollte im Grunde nichts anderes schaffen als die Momentaufnahme einer Landschaft zu einer bestimmten Jahreszeit. Es ist daher klar, dass der Autor selbst im Bild nicht aufscheinen konnte, weil es im fotografielosen Zeitalter naturgemäß auch keinen Selbstauslöser gegeben hat.

Der Haiku-Dichter nimmt die Rolle eines Objektivs ein. Von ihm wird das Motiv erfasst, festgehalten und an eine zweite Person vermittelt – obwohl er sich der persönlichen Meinung und des lnterpretationsversuches enthält, denn er will ja nur das Bild sprechen lassen.

Und wie ein guter Fotograf und nicht wie ein „Knipser“, der seinen Film wahllos verschießt, wird er nur ein Bild einfangen, das dem späteren Betrachter, sprich Leser oder Hörer, etwas zu sagen hat: Nämlich die tiefere Bedeutung, die dem Gegenstand der Betrachtung zu Grunde liegt.

In diesem Rahmen dürfen über den Augen-Blick hinaus auch andere Sinne angesprochen werden, zum Beispiel wird aus der Landschaft etwas hörbar oder ein Duft bemerkt.

Auch bedient sich der meisterliche Haiku-Dichter eines Kunstgriffs, denn er will – wie jeder ernsthafte Fotograf – mit seinen Worten ein Bild von außergewöhnlicher Bedeutung in den Raum stellen. Mittels des Kunstgriffs der Zäsur im Mittelteil des Textes finden zwei scheinbar zusammenhanglose Elemente plötzlich zu einem Gesamtbild und eröffnen der geistigen Betrachtung eine neue Dimension.

Das Haiku ist somit ein Bild von großer Transparenz und unbeschränkten Deutungsmöglichkeiten. Auf keinen Fall ist es bloß ein Satz oder ein Epigramm. Und es ist keine reine Bestandsaufnahme oder Wahrnehmung ohne tiefere Bedeutung. Bravourös gehandhabte Sprache oder eine überraschende Perspektive wertet das Haiku auf.

Im Grunde ist das Haiku verdichtete Dichtung. Hier geht es einfach um das Wesentliche.

Immer wieder tauchen Texte mit der vorgeschriebenen Zeilen- und Silbenzahl auf, die jedoch die anderen Regeln des Haiku außer Acht lassen. Ein solches so genanntes Senryu lässt Meinungen des Autors und somit seine eigene Erscheinung zu und verzichtet allenfalls auch auf den Jahreszeit-Hinweis.

Das „orthodoxe“ Haiku jedenfalls weist ein die Jahreszeit bezeichnendes Saisonwort, ein Symbolwort sowie einen Schnittpunkt zwischen den Polen der ersten und letzten Zeile auf.